Die Chronik des Kodex der Schatten

Die Geschichte des Kodex der Schatten reicht weiter zurück, als es die Erinnerungen der Menschen erlauben. Es gibt keine offizielle Erwähnung in Chroniken, keine erhaltenen Dokumente in den Archiven der großen Bibliotheken, und doch taucht sein Flüstern in den dunklen Randnotizen vergessener Manuskripte auf – von Sumer bis zum mittelalterlichen Europa, von den Katakomben Roms bis in die Keller der Vatikanbibliothek.

Die Ursprünge: Ein Flüstern aus Mesopotamien

Die ersten Andeutungen eines dunklen Buches finden sich in Keilschriften der Sumerer um 2100 v. Chr. In einer erhaltenen Tontafel aus Nippur wird ein verbotenes Werk erwähnt, das „die wahre Natur der Dunkelheit“ enthülle. Priester des Gottes Enlil warnten davor, es zu lesen, denn es enthalte „Worte, die den Geist zerreißen und den Leib ins Nichts ziehen.“ Manche Historiker vermuten, dass dies die älteste Erwähnung des Kodex sein könnte, doch sein vollständiger Text blieb verborgen.

Ägypten und das Buch der Verdammnis

Ägyptische Quellen aus der 18. Dynastie (ca. 1300 v. Chr.) erzählen von einem „Buch der Verdammnis“, das einst in der Bibliothek von Heliopolis verwahrt wurde. Priester des Osiris sprachen von einer Schrift, die nicht von menschlicher Hand verfasst wurde, sondern „aus der Leere in diese Welt tropfte.“ Thutmosis III. soll befohlen haben, es zu vernichten, doch Berichte deuten darauf hin, dass es in einer versiegelten Kammer verborgen wurde.

Griechische Philosophen, darunter Herodot und Platon, sprachen von einem verbotenen Buch, das „die Wahrheit jenseits der Götter“ offenbare. Es wurde in den Geheimkulten des Orpheus und den Mysterien von Eleusis geflüstert, doch niemand wagte, seine Verse zu rezitieren.

Die verlorene Bibliothek von Pergamon

Die berühmte Bibliothek von Pergamon, die im 2. Jahrhundert v. Chr. mit über 200.000 Schriftrollen wetteifernd mit Alexandria stand, wird von manchen Historikern als möglicher Bewahrer des Kodex angesehen. Eine Randnotiz in einem fragmentierten Manuskript spricht von einem Text, „dessen Existenz das Leben selbst verneint.“ Ob Pergamon diesen Text tatsächlich besaß, ist unklar – doch es wird berichtet, dass, als Rom unter Marc Anton große Teile der Bibliothek nach Alexandria brachte, ein einziges Manuskript absichtlich zurückgelassen wurde.

Rom und das Verschwinden des Kodex

Im Jahr 166 n. Chr., zur Zeit von Kaiser Mark Aurel, wird in römischen Schriften von einer Sekte namens „Die Wächter des Nichts“ berichtet. Sie hielten sich in den Katakomben Roms verborgen und verehrten ein Werk, das sie „Codex Tenebrarum“ nannten – den Kodex der Schatten.

Eine Notiz aus den Acta Senatus von 173 n. Chr. beschreibt eine Massenhinrichtung von Männern und Frauen, die „schwarze Verse aus einem Buch rezitierten, das ihre Augen bluten ließ.“ Der Kaiser befahl, alle Exemplare zu vernichten. Doch wie bei allen verbotenen Werken war es gerade dieses Verbot, das das Wissen über den Kodex weitergab.

Das Mittelalter: Die schwarzen Seiten der Klöster

Mit dem Aufstieg des Christentums versank der Kodex offiziell in Vergessenheit – doch er tauchte immer wieder auf, verborgen in den Klöstern Europas. Benediktinermönche des 9. Jahrhunderts sprachen von einem Manuskript, das sich selbst zu schreiben schien, wenn niemand hinsah.

Im 13. Jahrhundert wurde ein ketzerischer Text in der Abtei von Corbie in Frankreich entdeckt, der von einem Mönch namens Brother Luthar verfasst wurde. Er schrieb:

"Ich schrieb, und die Worte waren nicht meine. Ich blickte zurück, und die Seiten hatten sich verdunkelt. Mein Blut tropft auf die Schrift, doch es ist nicht mein Blut. Ich höre die Stimmen hinter den Wänden, und sie sagen mir, dass der Kodex niemals stirbt."

Die Kirche verbrannte Brother Luthar auf dem Scheiterhaufen im Jahr 1231, doch sein Werk wurde nicht gefunden.

Die Renaissance: Der Kodex und die Alchemisten

Im 16. Jahrhundert tauchte der Kodex wieder auf – diesmal unter den Alchemisten und Geheimgesellschaften. Paracelsus erwähnte ein Liber Tenebris, das „nicht die Transmutation von Metallen beschreibt, sondern die Verwandlung der Seele in Staub.“

Ein Exemplar soll sich in den Händen von John Dee, dem Okkultisten am Hof von Königin Elisabeth I., befunden haben. Dee war bekannt für seine Versuche, mit jenseitigen Wesen in Kontakt zu treten. Manche behaupten, sein Buch der Enochischen Magie sei nur ein verzweifelter Versuch gewesen, das wahre Wissen des Kodex zu entschlüsseln – und daran sei er letztlich zerbrochen.

Das 20. Jahrhundert: Das letzte bekannte Fragment

Die letzte bekannte Erwähnung des Kodex stammt aus dem Jahr 1938. Der deutsche Okkultist Karl Maria Wiligut, ein Berater Heinrich Himmlers, sprach von einem „Urtext der Vernichtung“, den die SS während Expeditionen im Himalaya suchte.

Doch als der Zweite Weltkrieg endete, verschwand jede Spur des Kodex. Manche glauben, dass er in den Katakomben des Vatikans verborgen liegt. Andere meinen, er existiere nicht als Buch, sondern nur als eine Idee, die sich in den Gedanken der Verlorenen einnistet.

Was auch immer die Wahrheit sein mag – wer ihn sucht, findet keine Erkenntnis, sondern nur den Wahnsinn. Der Kodex der Schatten stirbt nie. Er wartet.